Diakonie Magazin 2024/Nr. 1 herunterladen

»Was ich besonders klasse finde: Wir arbeiten niederschwellig, füllen keine Akten. Jede und jeder ist herzlich willkommen.« So ist die Bahnhofsmission der Diakonie in Erlangen auch sieben Jahrzehnte nach ihrer Gründung ein Ort, an dem Menschen in Ruhe ankommen können – für einige von ihnen vielleicht sogar der einzige …

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SO KLINGT DANKBARKEIT


»BEI UNS IST DEINE FLUCHT ZU ENDE«

Wo früher Hotelgäste übernachteten, leben seit einigen Monaten junge Flüchtlinge*. Das Erlanger Jugendamt hat sie in Obhut genommen: Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren, die ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Sie finden hier ein Dach über dem Kopf – und so viel mehr: Die jungen Bewohner werden an 365 Tagen rund um die Uhr pädagogisch betreut.

Das Team um Einrichtungsleiterin Lisa Janeck stellt gemeinsam mit den Schutzsuchenden die ersten Weichen: für eine Zukunft, für Perspektiven. Was für Kinder und Jugendliche generell wichtig ist, wird umso wichtiger, wenn die eigene Welt aus den Fugen geraten ist.

LISA JANECK

»Sie haben so viel Potenzial«: Lisa Janeck leitet die neue Einrichtung für junge Schutzsuchende, die ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind.

»Am liebsten sofort Geld verdienen«

Alle Kinder und Jugendlichen, die hier ankommen, haben traumatische Erfahrungen im Gepäck. Sie haben ihr Land verlassen, weil dort Krieg herrscht, weil ihre Familien verfolgt werden oder weil sie sich schlicht ein besseres Leben erhoffen. »Unsere Einrichtung ist für die jungen Schutzsuchenden ein sicherer Ort, der signalisieren soll: Bei uns ist Deine Flucht zu Ende«, erklärt Christian Debebe, stellvertretender Bereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfe bei der Stadtmission Nürnberg, zu der die Diakonie Erlangen gehört.

Da trifft der ukrainische Junge, der ohne seine Eltern vor dem Krieg geflohen ist, und jeden Tag am Online-Unterricht seiner alten Klasse teilnimmt, auf das Straßenkind aus Afrika, das noch nie regelmäßig eine Schule besucht hat. Was die jungen Bewohner eint? Sie sind sehr motiviert. »Die jungen Leute wollen am liebsten sofort in die Schule, einen Pass und dann Geld verdienen«, sagt die Leiterin. »Es macht einfach Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Sie haben so viel Potenzial«, fährt sie fort.

Stadtmission Nürnberg und Diakonie Erlangen kümmern sich auf vielen Feldern um Migranten*innen und Flüchtlinge. Die neue Einrichtung mit ihren zehn Plätzen ist Inobhutnahme- und Clearingstelle gleichermaßen. Das Team erforscht die individuellen Beweggründe für die Flucht, kümmert sich um die Gesundheit der Bewohner und ums Thema Schule. Familienangehörige werden gesucht, der ausländerrechtliche Status geklärt – und das in enger Abstimmung mit dem Jugendamt. »Die Zusammenarbeit ist gut, intensiv und effektiv«, sagt Lisa Janeck. Drei Monate sollen die Jugendlichen im Schnitt in der Inobhutnahme-Einrichtung bleiben, bevor sie für länger in eine andere Wohnform umziehen.

*Wir haben den Ort der Einrichtung bewusst nicht genannt, um die jungen Bewohner zu schützen.

Sabine Stoll


»EINE FORM DER TEILHABE«

»Die Musik des Sinfoniekonzerts war so kraftvoll, dass sie mein Herz tief berührt hat – ein unvergessliches Erlebnis. Vielen Dank, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, in einer so schwierigen Zeit Spaß zu haben«, zitiert Dr. Birgit Hodenius eine an sie gerichtete Dankes-Mail. »Ich kriege Gänsehaut, wenn ich so etwas lese. Und es macht mich auch ein bisschen glücklich«, freut sich die Leiterin der Erlanger KulturTafel. Seit zehn Jahren bringt die Einrichtung Menschen in Theater, Konzert und Co, kostenfrei. Es sind Bürger*innen, bei denen im Haushaltsbuch kein Platz für den Posten »Kultur« ist, weil das Geld knapp ist. Aber ist das überhaupt schlimm? Der Besuch kultureller Veranstaltungen in Krisenzeiten nicht sogar verzichtbar? »Auf gar keinen Fall«, wehrt sich Dr. Hodenius energisch und begründet: »Auf einem Konzert mit anderen zu tanzen, ist eine Form der Teilhabe. So erleben wir sozialen Austausch, sind weniger einsam und damit letztlich glücklicher. Ohne Kultur funktioniert unsere Gesellschaft nicht.«

MEHR GLANZ FÜR ALLE

Dank der Erlanger KulturTafel scheitert der Theaterbesuch nicht am schmalen Geldbeutel.

Kultur für alle

Das Grundanliegen des Diakonie-Angebots hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2014 nicht geändert. »Kultur für alle« lautet das Motto, einfach und unbürokratisch. Wer Freikarten für ein Event möchte, füllt zunächst das knappe Anmeldeformular aus. Dort lässt sich ankreuzen, für welche Veranstaltungen man sich besonders begeistert – die Auswahl ist groß und reicht von Ballett über Kino und Rockkonzerte bis hin zu Sport-Matches und Workshops. Sind Tickets für die Wunschkategorien vorhanden, meldet sich die KulturTafel. Anschließend können die Karten gegen Vorlage einer Berechtigung, zum Beispiel des Erlangen-Passes, abgeholt werden. Alternativ werden sie zugesendet oder man landet beim Einlass der Konzerthalle direkt auf der Gästeliste, etwa im Erlanger E-Werk. Das Kulturzentrum unterstützt die KulturTafel bereits von Anfang an großzügig, wie Dr. Hodenius betont. Sie fährt beispielhaft fort: »Und die hiesige GEWOBAU hat uns kürzlich ein großes Kartenkontingent für den HC Erlangen zur Verfügung gestellt – eine tolle Sache.«

Auch für junge Menschen viel im Angebot

Ohne Veranstalter, die Tickets spenden, geht bei der KulturTafel nichts. Mindestens genauso wichtig sind aber die Ehrenamtlichen, die sich engagieren. »Unsere fünf wundervollen Frauen haben von zuhause aus Zugriff auf unsere Datenbank und bieten unseren Kundinnen und Kunden telefonisch Karten an«, erklärt Dr. Hodenius die freiwillige Tätigkeit. Auch im August werden wieder vermehrt die Telefone klingeln. Dann zelebriert die Hugenottenstadt das Erlanger Poetenfest. »Gerade im Sommer macht Kultur doch besonders viel Spaß«, schwärmt die Leiterin der KulturTafel und denkt dabei etwa auch an Rock- und Klassikkonzerte unter freiem Himmel. Spannende Festivals, auch für jüngere Menschen. Diese möchte Dr. Hodenius verstärkt mit ihrem Angebot erreichen. Sie appelliert: »An alle Studierenden, an alle jungen Familien mit Kindern: Kommt zu uns! Wir haben Karten für euch und freuen uns, wenn wir euch eine kleine Freude machen können.« Und zwar mindestens zehn weitere Jahre lang.

Alexander Reindl

zur KulturTafel


LEBENSHILFE BESUCHT DAS HOSPIZ

Wie kann das Hospiz für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen begreifbar werden? Vor dieser Herausforderung stand Wickenhäuser zunächst: »Aus meinen früheren Tätigkeiten im Behindertenbereich wusste ich, dass ich keinen Vortrag mit langen Schachtelsätzen und vielen Fachbegriffen halten kann.« Gefragt waren stattdessen einfache Formulierungen und verschiedene Hilfsmittel – Kommunikation auf Augenhöhe. »Also tauchte ich ein in die Welt der ‚Leichten Sprache‘«, erzählt die Hospiz-Mitarbeiterin.

Im Konferenzzimmer im Dachgeschoss entstand schnell ein reger Austausch mit viel Raum für persönliche Gedanken und Gefühle. So schilderten die Besucher*innen aus der Lebenshilfe eindrucksvoll ihre Erfahrungen mit Abschieden von Angehörigen und Mitbewohnern*innen und dem Umgang mit ihrer Trauer. Auch ihre Ängste wurden aufgegriffen. »Muss ich aus der Wohngruppe ausziehen, wenn ich schwer krank bin?« ist etwa ein Thema, das viele Menschen in der Lebenshilfe beschäftigt.

PLAYMOBIL-FIGUREN STATT SCHACHTELSÄTZE

Mit viel Kreativität wurde den Besuchern*innen aus der Lebenshilfe die Hospizarbeit nahegebracht.

Tiefgründige Gedanken und beeindruckender Umgang mit dem Sterben

Mit Hilfe von anschaulichen Bildern und einfache Sätzen vermittelte Wickenhäuser die Bedeutung der Hospizarbeit. Playmobil-Figuren, ein Holzkreuz oder eine Tablettenschachtel symbolisierten dabei die ganzheitliche Begleitung im Hospiz. Zudem wurden die Unterschiede zwischen Hospiz-Verein, stationärem Hospiz, Palliativ-Team und Palliativ-Station erklärt. So entstand ein klareres Bild von den verschiedenen Unterstützungsangeboten zu Hause und in der Wohngruppe. Ein Rundgang durch die Einrichtung am Ohmplatz komplettierte den Besuch.

Am Ende waren nicht nur die Menschen aus der Lebenshilfe schwer begeistert, sondern auch Wickenhäuser. »Für mich war es eine ganz besondere Hospiz-Führung. Die tiefgründigen Gedanken und Fragen, die innere Einstellung zu Leben und Tod und der intuitive Umgang mit dem Sterben beeindruckten mich sehr«, bilanziert sie und freut sich über den Besuch.

Alexander Reindl

zum Hospiz am Ohmplatz


MIT DER TAFEL ZURÜCK IN DIE FREIHEIT

Michael ist angekommen. Im Leben und in der Freiheit. Nach einer schweren Gewalttat saß er über zehn Jahre im Gefängnis. Bestürzt über seine Tat, begann er, sich dort mit seinem Leben auseinanderzusetzen. Als die Chance bestand, die Strafe in einer Therapieanstalt fortzusetzen, wollte Michael diese Möglichkeit unbedingt nutzen. Eine Therapieanstalt unterscheidet sich in einigen Bereichen wesentlich von einer herkömmlichen Justizvollzugsanstalt. So dürfen die Häftlinge etwa eigene Kleidung tragen, für die sie auch selbst verantwortlich sind. Auch der Umgang zwischen den Häftlingen und Mitarbeitern*innen unterscheide sich deutlich von dem im Gefängnis: »Man bekommt ein Stück Würde zurück, ist nicht mehr nur eine Laufnummer, sondern wieder ein Mensch mit Namen und Persönlichkeit. Die Arbeit in der therapeutischen Einrichtung ist dieselbe wie im herkömmlichen Knast. Aber danach hast du noch eineinhalb Stunden Therapie – ein wesentlicher Unterschied.« Im Laufe der Therapiearbeit gibt es spezielle Angebote und Stufenmodule, die nach und nach umgesetzt werden, bis man das Gefängnis für 32 Stunden im Monat für Freizeitaktivitäten verlassen darf. »Für mich stand sofort fest, dass ich etwas Soziales machen möchte, etwas Sinnvolles.« Er entschied sich für die Tafel.

 

ANPACKEN BEI DER ERLANGER TAFEL

Manchmal verläuft der Weg in die Freiheit zwischen Gemüsekisten ...

Beim Wort »Gefängnis« läuten die Alarmglocken

Dort lernte er Erika Mörtel kennen, die ehrenamtliche Teamleitung der Tafel Erlangen. Für sie war der erste Eindruck ausschlaggebend, als sie Michael begegnete: »Ich war ganz offen und hatte sofort das Gefühl, dass wir es miteinander probieren sollten.« Jetzt nach einem Jahr habe sich das positive Bauchgefühl bestätigt. »Anfangs war Michael etwas vorsichtig und zurückhaltend, aber inzwischen ist er bei uns angekommen. Er hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen, ist zuvorkommend und nie aufmüpfig.« Ein wenig stolz sei sie auch darauf, dass Michael trotz fester Arbeitsstelle weiterhin die Tafel unterstützt. Der 59-Jährige ist seit fast einem halben Jahr wieder in seinem alten Beruf tätig und muss im Rahmen des offenen Vollzugs im Gefängnis nur noch übernachten. Aber die Mithilfe bei der Tafel bereitet ihm so viel Freude, dass er sich dort weiterhin an zwei Samstagen im Monat ehrenamtlich engagiert. Dabei leistet er ganze Arbeit: »Michael habe ich so angelernt, dass er alles kann«, schmunzelt Mörtel. »Sortieren, Ausgeben, Abladen – einfach alles! Backwaren und Gemüse sortiert er selbstständig für die Weitergabe, er übernimmt die Warenausgabe und hilft auch beim Ausladen der Lebensmittel.«

Michael ist glücklich über die Möglichkeit zur Mitarbeit: »Es gibt ja auch Leute, die hören nur das Wort ‚Gefängnis‘ und es läuten sofort die Alarmglocken. Erika Mörtel weiß von der Schwere meiner Tat. Alle anderen in der Tafel wissen nur, dass ich derzeit im Gefängnis bin.« Inzwischen hat Michael auch gelernt, offen mit seiner Situation umzugehen. Das sei ihm anfangs schwergefallen: »Weil das Thema immer noch so tabuisiert ist. Vor allem wenn es dann heißt: ‚Wie lange bist du denn schon im Gefängnis?‘ Nennt man darauf eine zweistellige Zahl, dann zucken doch viele zusammen. Schließlich ist dann sofort klar, dass etwas relativ Schweres vorgefallen sein muss.«

»Muss mich sozial engagieren, um mir wieder in die Augen schauen zu können«

Die Arbeit bei der Tafel ist ein wichtiger Teil von Michaels Resozialisierung: »Ich war selbst von meiner Tat schockiert. Damals war ich 45 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder – und dann passiert so etwas Schreckliches. Ich hatte danach das Gefühl: Ich muss mich sozial engagieren, auch um meiner selbst willen, damit ich mir wieder in die Augen schauen kann. Die Tafel ist für mich ein Teil Demut. Hier erlebe ich hautnah arme und kranke Menschen, auch Kriegsflüchtlinge, die mit nichts dastehen. Dies macht mich demütig. Früher hatte ich alles und ich habe mich oft über andere Menschen gestellt. Jetzt kenne ich auch die andere Seite des Lebens – und das ist gut so.«

Während des Gefängnisaufenthalts hatte Michael keine sozialen Kontakte. Seine Familie habe sich nach der Tat von ihm abgewendet, was er auch gut nachvollziehen könne. Deshalb sei es ihm so schwergefallen, positive Rückmeldungen anzunehmen. »Wenn ich bei der Tafel zu sehr gelobt wurde, wurde ich sehr emotional. Dann habe ich zu Erika gesagt: ‚Hör auf, sonst fange ich an zu weinen.‘ Inzwischen hat sich das geändert, aber anfangs konnte ich nichts Positives annehmen.« Die Entscheidung, bei der Tafel mitzuhelfen, sei auch laut seiner Therapeutin die beste Entscheidung gewesen.

Mit offenen Armen aufgenommen

Nach einem Jahr bei der Tafel und jahrelanger therapeutischer Begleitung ist Michael wieder im Leben angekommen: »Das Team der Tafel hat mir von Beginn an wahnsinnig geholfen. Ich wurde hier mit offenen Armen aufgenommen. Ich sage mittlerweile, das ist meine zweite Familie.« Inzwischen befindet er sich in der vorletzten Stufe vor der Entlassung und hat die stufenweise Heranführung an das Leben in Freiheit hinter sich. Er sagt von sich, dass er sich in etlichen Punkten zum Positiven verändert hat: »Ich hatte diese Gier in mir, die ja auch letztendlich zu meiner Tat geführt hat. Ich war ein Workaholic, der sich kaum hinterfragt hat, war arrogant, egoistisch, nur auf Karriere und Kohle ausgerichtet. Trotzdem hatte ich eine Frau, die mich liebte, hatte Kinder und ein festes soziales Gefüge. Was das wert ist, wird einem erst bewusst, wenn es weg ist. Heute kann ich mich reflektieren. Ich bin in der Lage mir selbst ein Stoppzeichen zu setzen, wenn ich spüre, dass ich mich für etwas Besseres halte. ‚Moment! Denk daran, wie es dir früher ging. Überlege, was dir passiert ist und was du angerichtet hast.‘«

In seinem eigentlichen Handwerk verfügt Michael über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung. Deshalb fand er sofort eine neue Stelle. »Aber natürlich hatte ich Bedenken. 59 Jahre alt, Gewaltstraftäter, viele Jahre im Gefängnis – da kann schon mal der Eine oder Andere zurückschrecken und sagen: ‚Nee, nee, den wollen wir nicht.‘ Ich habe viel Glück, einen Handwerksberuf gelernt zu haben, kein Drogen- oder Alkoholproblem zu haben und – abgesehen von meiner Tat – nie auffällig gewesen zu sein.« Im Januar bekam Michael schließlich seinen ersten Lohnzettel nach fast 14 Jahren. »Mein allererster Gedanke war: ‚Oh ja, ich zahle jetzt Steuern und Krankenkassenbeiträge …‘ Das war ein erhebendes Gefühl, wirklich! Ich habe mir den Gehaltszettel extra auf Papier ausdrucken lassen. Ich dachte mir nur: ‚Wow, jetzt bin ich der Freiheit wieder ein Stück näher.‘ Es ist einfach schön, zunehmend wieder in der Gesellschaft und im Leben anzukommen.« Auch dank der Erlanger Tafel.

Sabine Weißenborn

zur Tafel Erlangen


GEMISCHTES DOPPEL FÜR EIN WÜRDEVOLLES LEBEN UND STERBEN

Frau Kessler, würden Sie gerne für eine Woche mit Frau Twil den Arbeitsplatz tauschen?

Kessler: Das habe ich bereits. Letztes Jahr war nicht das erste Mal, dass ich bei einem personellen Notstand im Seniorenheim für einige Tage eingesprungen bin. Sich gleich mit doppelt so vielen Namen wie im Hospiz plus den Besonderheiten der Menschen auseinanderzusetzen, ist schon eine Herausforderung. Es ist ein ganz anderes Arbeiten als bei uns, aber es war auch schön und interessant.

Und wie sieht es mit Ihnen aus, Frau Twil?

Twil: Das Interesse ist da, aber ich bin dafür wohl zu sensibel. Ich sehe ja öfters auch junge Menschen auf der Terrasse des Hospiz‘ sitzen. Sie wirken glücklich, aber die Vorstellung, dass sie bald sterben müssen, macht mich persönlich traurig. Zugleich habe ich größten Respekt vor der Arbeit von Frau Kessler und ihren Kolleginnen und Kollegen.

Sie bleiben also lieber in der Diakonie am Ohmplatz. Was ist das Schönste dort für Sie?

Twil: Die Einrichtung ist mein zweites Zuhause. Ich verbringe gerne Zeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Die Arbeit ist weniger oberflächlich als zum Beispiel in einem Krankenhaus, man ist sich näher.

Und welche positiven Erlebnisse prägen die Hospizarbeit?

Kessler: Bei uns ist man nah und intensiv am Menschen. Für mich ist es ein sehr bereicherndes Gefühl, mit viel Empathie eine gute und vertrauensvolle Verbindung herzustellen. Wir können mit dem gesamten Team und den Ärzten auch zum Teil stark belastende Symptome lindern. Es macht einfach Freude zu sehen, wie Gäste und ihre Angehörigen erleichtert sind und wieder aufleben.

Sind das die Gründe, warum Sie sich für die Arbeit in einem Hospiz entschieden haben?

Kessler: Ja. Und weil ich nach neun Jahren in der Notaufnahme und Intensivstation »normales« Sterben erleben wollte. Ich hatte im Klinikum oft das Gefühl, dass man die Patienten nicht in Ruhe gehen lässt. Es wurde natürlich auch häufig reanimiert.

Frau Twil, Sie haben die Altenpflege gewählt. Warum?

Twil: Ich wusste bereits mit 16 Jahren, dass ich in die Pflege möchte. Nach Praktika in verschiedenen Bereichen, hat mir die Altenpflege am besten gefallen.

Sie wirken sehr reflektiert. Trauen Sie sich in einem Satz einzuschätzen, welches die wichtigste Aufgabe Ihres Gegenübers ist?

Twil: Frau Kessler lindert das Leid von Sterbenden und deren Angehörigen.

Und nun bitte Sie, Frau Kessler …

Kessler: Frau Twil versorgt ihre Bewohnerinnen und Bewohner bestmöglich und gibt ihnen das Gefühl, nicht ganz alleine zu sein.     

Sie sind in gewisser Weise angekommen. Sind Sie selbst auch angekommen, also beruflich?

Kessler: Schon lange! Ich arbeite seit seiner Gründung im Hospiz. Das erste Jahr musste ich mich erst an das Umfeld und die hospizliche Veränderung gewöhnen. So wollte sich zum Beispiel damals eine Dame trotz Aufklärung partout nicht lagern lassen. Sie so zu belassen, war eine große Umstellung. Das kannte ich aus dem Klinikum nicht. Unsere Gäste dürfen selbstbestimmt leben, wenn sie sich ihrer Situation bewusst sind.

Fühlen Sie sich ebenfalls angekommen, Frau Twil?

Twil: Ja – auch wenn ich noch Einiges vorhabe. Seit zwei Jahren leite ich jetzt einen Wohnbereich. Mit meinen Aufgaben und meinem Team fühle ich mich sehr wohl. Trotzdem möchte ich mich zusätzlich weiterbilden. Die Diakonie Erlangen unterstützt mich auf diesem Weg.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Wunsch für Ihren Beruf frei …

Kessler: … weniger Bürokratie am PC wäre schön.

Twil: Ich wünsche mir mehr Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner. Und dass jungen Menschen vermittelt wird, dass meine Arbeit viel mehr ist als Windeln wechseln. Die Pflege von Menschen ist etwas Schönes!

Interviews: Alexander Reindl

SPRACHEN ÜBER IHRE BERUFE:

Sabine Kessler (l.) und Salma Twil


EIN SEISMOGRAF DER GESELLSCHAFT

Eine schmucklose Holzbaracke, nicht größer als eine Garage. So präsentierte sich die Bahnhofsmission bei ihrem Start im Jahr 1954. Darin tummelten sich Reisende und Kriegsheimkehrer, die bei ihrer Ankunft in Erlangen nach Orientierung suchten. Während der Wirtschaftswunderjahre folgten Gastarbeiter*innen, etwa aus Italien, Griechenland, der Türkei. Konfrontiert mit einem unbekannten System und einer fremden Sprache, nahmen viele von ihnen dankbar die Hilfe der Bahnhofsmission an – zum Beispiel, wenn es darum ging, an die richtigen Behörden vermittelt zu werden. Auf eine andere Weise fremd fühlten sich damals viele der Rentner*innen, die den »Klassenfeind« besuchten: DDR-Bürgerinnen war die Reise in die BRD ab 60, Männern ab 65 Lebensjahren einmal pro Jahr erlaubt – sofern sie Verwandtschaft im Westen hatten. Damit das Kaffeekränzchen bei Tante Gerda nicht am falschen Gleis strandete, stand die Bahnhofsmission den ostdeutschen Reisenden mit Rat und Tat zur Seite.

JEDER EURO ZÄHLT

Ohne Spenden wäre die wichtige Arbeit der Bahnhofsmission Erlangen nicht möglich.

Niemand wird abgewiesen

Auch heute noch hilft die Bahnhofsmission beim Umsteigen, unterstützt Zugfahrende mit Handicap. Und doch hat sich ihre Arbeit stark verändert. »Unser Schwerpunkt sind inzwischen Menschen, die gezielt zu uns in die Bahnhofsmission kommen«, nennt Steubing die wichtigste Zielgruppe. Obdachlose? »Ja – aber nicht nur. Uns besuchen immer mehr Bürgerinnen und Bürger, bei denen das Geld am Ende des Monats einfach nicht reicht.« Manche leiden unter ihrer Einsamkeit, andere haben psychische Probleme. Ganz gleich, welches Schicksal sich hinter der oder dem Einzelnen verbirgt: Niemand wird abgewiesen. Viele Gäste heißt Steubing und Team regelmäßig in den kleinen Räumen am Erlanger Bahnhof willkommen, andere schauen sporadisch vorbei. Die Beweggründe für den Gang in die Einrichtung sind unterschiedlich: eine kalte Brotzeit, ein heißer Kaffee, ein offenes Ohr. »Eine obdachlose Frau kommt beispielsweise zu uns, um stundenlang die Lokalzeitung zu lesen. Sie sagt, das ist die einzige Möglichkeit für sie, etwas über das aktuelle Geschehen zu erfahren«, erzählt Steubing. Wieder andere schneien einfach nur für ein Gespräch rein.

Die Bahnhofsmission sei dabei auch immer Seismograf: »Was demnächst auf die Gesellschaft zukommen wird, ploppt als Erstes immer bei uns auf«, so Steubing. Beispiele dafür gab es viele in der Vergangenheit: zwei Weltkriege, die Flüchtlingskrise 2015/16, der Ukrainekrieg – sie alle sorgten für hohes Aufkommen an den Bahnhöfen und viel Arbeit für die Bahnhofsmissionen. Und welche Erschütterungen verzeichnet der Seismograf Bahnhofsmission aktuell? »Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander«, stellt Steubing fest. Wer gestern noch zum Mittelstand zählte, kämpft aufgrund von Krisen und Inflation morgen vielleicht schon an der Schwelle zur Armut um seine Existenz.

Eine Tulpe für »Mama«

Düstere Aussichten. Ist die Arbeit in der Bahnhofsmission deshalb nicht deprimierend? Nein, diesen Eindruck vermittelt die Leiterin der Erlanger Einrichtung zu keiner Sekunde. Gemeinsam mit zwei weiteren Angestellten und etwa zwölf Ehrenamtlichen kümmert sie sich um etwa 20 bis 30 Gäste täglich und findet darin viel Sinn. »Zwischen unseren Besucherinnen und Besuchern entwickeln sich wertvolle Beziehungen – und auch zu unserem Team«, freut sich Steubing. Sie erinnert sich exemplarisch an eine schöne Situation: »Während Corona besuchte uns regelmäßig ein Rumäne, der kein Deutsch sprach. Er nannte mich immer herzlich ‚Mama‘ und überreichte mir eines Tages sogar eine Tulpe.« Eine kleine Geste, die große Anerkennung ausdrückt.

Den Wunsch, für Menschen in Notlagen da zu sein, verspüren in Erlangen ganz unterschiedliche Menschen. Da ist etwa der Zahnarzt im Ruhestand, der ehrenamtlich Brötchen in der kleinen Küche schmiert. Oder der Jura-Student, der einmal die Woche mithilft, um den Kopf von den Klausurprüfungen freizubekommen. Ohne sie alle wäre die Arbeit der Bahnhofsmission nicht möglich. Die studierte Sozialarbeiterin Steubing betont aber auch die Wichtigkeit von Spenden: »Viele Erlanger Bürgerinnen und Bürger bringen Kaffee, Zucker & Co. oder eine Geldspende persönlich vorbei. Es ist toll, dass es diese Menschen gibt.« Ehrenwert sei außerdem die Großzügigkeit regionaler Betriebe und Geschäfte. »Die Bahnhofsfiliale von Yorma’s sowie die Erlanger Bäckerei Trapper sorgen etwa dafür, dass wir jeden Tag Brezen, belegte Brötchen und Gebäck anbieten können«, nennt die Leiterin zwei Beispiele. 

Noch etwas freut sie: »Was ich besonders klasse finde: Wir arbeiten niederschwellig, füllen keine Akten. Jede und jeder ist herzlich willkommen.« So ist die Bahnhofsmission der Diakonie in Erlangen auch sieben Jahrzehnte nach ihrer Gründung ein Ort, an dem Menschen in Ruhe ankommen können – für einige von ihnen vielleicht sogar der einzige …  

Alexander Reindl

zur Bahnhofsmission Erlangen


»DAS STÄRKT FÜRS LEBEN«

RALF BIEDERBICK

»Wenn du hier nicht als Team agierst, hast du keine Chance«: Ralf Biederbick war einer der ersten Ausbilder in der Jugendwerkstatt.

Herr Biederbick, als Schreinermeister der ersten Stunde in der Jugendwerkstatt waren Sie auch eine Art Geburtshelfer. Eine schwere Geburt?

Biederbick: Allerdings! Zunächst musste die Werkstatt flottgemacht werden. Das war ja eine alte Schreinerei, die aus Altersgründen aufgegeben wurde. Entsprechend war ihr Zustand. Zu Beginn bestand unser Team auch nur aus zwei Leuten: ein Sozialpädagoge und ich als Schreinermeister. Gemeinsam waren wir für 20 Jugendliche zuständig – für uns alle Neuland.

Was war in diesem Neuland besonders schwierig?

Biederbick: Wir mussten junge Menschen motivieren, die zwei linke Hände und wenig Lust hatten. Man darf nicht vergessen: Zu Anfang der Juwe mussten die Jugendlichen hier im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme von Amts wegen arbeiten. Das hat nicht jedem gefallen …

Wie ist es Ihnen dennoch gelungen, die Menschen zu motivieren?

Biederbick: Das war zu großen Teilen Aufgabe des Sozialpädagogen. Aber wir mussten natürlich trotzdem zusammenarbeiten. Nicht immer ganz einfach …

Warum?

Biederbick: Der Sozialpädagoge hatte oft ein anderes Weltbild als ich als bodenständiger Handwerker. Beim Zusammenraufen haben wir uns durchaus einige Schrammen geholt. Aber wir haben es geschafft. Wenn du hier nicht als Team agierst, hast du keine Chance.

Sie haben während Ihrer Zeit in der Juwe fast 200 Jugendliche betreut. Welche Probleme brachten diese in den Achtzigern mit?

Biederbick: Geldprobleme, die hatten sie alle. Und oft keine eigene Wohnung. Viele kamen aus prekären Familienverhältnissen und schwierigen Beziehungen. Hinzu kamen oft Suchtprobleme. Gerade die Jüngeren der 17- bis 24-Jährigen wussten gar nicht, was im Leben auf sie zukommt. Da waren Schulabbrüche nicht hilfreich. Trotzdem haben wir bei vielen Jugendlichen großes Potenzial gesehen – einige hatten wirklich was drauf!

Auch Sie selbst kamen ursprünglich als Arbeitsloser durch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Jugendwerkstatt. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Biederbick: Es waren die 80er-Jahre, die Arbeitslosenquote war hoch. Ich war damals 27 Jahre alt, als ich in die Juwe kam. Ein halbes Jahr haben wir um meine Festanstellung gekämpft, dann hat es endlich geklappt. Letztlich bin ich sieben Jahre geblieben.

Das ist eine lange Zeit. Was hat sie Ihnen gebracht?

Biederbick: Ich habe hier jede Menge gelernt. Besonders den Umgang mit unterschiedlichen Menschen. Das hat mir auch im späteren Arbeitsleben geholfen.

Also ist die Jugendwerkstatt für Sie ein Erfolgsmodell?

Biederbick: Ja, weil sie jungen Menschen mit Problemen sehr viel bringt. Vor allem bei der Orientierung und dem Erwachsenwerden. Schade ist jedoch, dass die Finanzierung noch immer nicht stabil ist. Es ist wichtig, dass man Menschen mit solchen Einrichtungen unterstützt. Dazu braucht es eine langfristige finanzielle Förderung.

LYDIA KLEMCKOW

»Die Zeit in der JuWe war Lebenshilfe«: Lydia Klemckow schreinert inzwischen im Hohen Norden.

Moin Frau Klemckow! Nach Lehrjahren in Franken und einigen weiteren Stationen hat es Sie in den Hohen Norden in die Nähe von Kiel verschlagen. Sind Sie dort angekommen – trotz Sprachbarriere?

Klemckow: (lacht) Mit der Sprache hatte ich keine Probleme. Mein Vater stammt ja aus Norddeutschland, meine Mutter aus Berlin. Und auch sonst fühle ich mich hier sehr wohl. Nur die fränkische Natur vermisse ich – und natürlich die Bratwürste!

Hoffentlich gelingt es Ihnen trotzdem, sich für Ihre Arbeit als Tischlermeisterin gut zu stärken. Was genau machen Sie in Ihrem Betrieb?

Klemckow: Ich leite hier die Werkstatt und bin für unsere Auszubildenden zuständig. Bereits als Gesellin habe ich mich um die Azubis gekümmert – ich habe einfach einen guten Draht zu jungen Menschen und bemerke, wenn sie Unterstützung brauchen. Ich versuche, auf ihre Probleme einzugehen. Schließlich habe ich Bock darauf, etwas für den Handwerk-Nachwuchs zu tun. Dazu gehört auch, dass eine Ausbildung Spaß macht. Den Spruch »Lehrjahre sind keine Herrenjahre« finde ich doof!

Wie reagieren die Azubis auf Ihre empathische Art?

Klemckow: Immer positiv. Mein letzter Geselle hat mir nach seinem Abschluss eine Postkarte geschickt, die mich zu Tränen gerührt hat. Darin bedankte er sich für meine Unterstützung. Die Karte hat jetzt einen Ehrenplatz in meiner Wohnung.

Trotzdem ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, oder? Gerade als Frau in einem sogenannten »Männerberuf«?

Klemckow: Nein. Aber das hat weniger mit meinem Geschlecht, als vielmehr mit meinem relativ jungen Alter zu tun. Von den älteren Gesellen kriegt man dann schon mal einen Spruch und wird wegen meiner Büroarbeit etwa als »Sesselpupser« bezeichnet.

Wie reagieren Sie?

Klemckow: Ich sage ihnen, sie sollen erstmal selbst die Abendschule besuchen. Ich musste auch neben meiner Arbeit meinen Meister machen. Das war nicht einfach. Und jetzt trage ich die Verantwortung für die Werkstatt, die Auftragsabwicklung sowie die Azubis und Gesellen.

Am Anfang stand jedoch Ihre Ausbildung in der Jugendwerkstatt. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Klemckow: Das war eine wilde Zeit. Ich habe oft verschlafen, da hat mich der damalige Sozialpädagoge zur Seite genommen. Er hat schnell gemerkt, dass meine psychischen Probleme dafür verantwortlich waren und mich ermutigt, dass ich mir Hilfe holen solle.

Sie sind seinem Rat gefolgt?

Klemckow: Ja. Das war ein wichtiger Schuss vor den Bug, der mir sehr geholfen hat. Überhaupt war die Zeit in der Juwe mehr als eine Berufsausbildung. Das war Lebenshilfe. Insbesondere der genannte Sozialpädagoge hat mir mit seiner warmen und einfühlsamen Art viel Stabilität gegeben.

Ist die Jugendwerkstatt also ein Erfolgsmodell für Sie?

Klemckow: Absolut. Man hat dort weniger Auftragsdruck als in der Freien Wirtschaft. Und immer eine Ansprechperson, die an der Seite der Azubis steht. Man kann sich ausprobieren und muss keine Angst haben, etwas falsch zu machen. Das stärkt fürs Leben und gibt jede Menge Selbstvertrauen.

Interviews: Alexander Reindl

zur Jugendwerkstatt Erlangen

Kontakt

Pressesprecherin Sabine Stoll

Sabine Stoll Pressesprecherin, Leiterin Unternehmenskommunikation

Raumerstraße 9
91054 Erlangen

(0911) 35 05 – 154

sabine.stoll@diakonie-erlangen.de

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